Die GGG bezieht Stellung
Wahlprüfsteine 2022
Vorbemerkungen
Die GGG steht der stark gegliederten Bildungslandschaft in Niedersachsen weiterhin kritisch gegenüber.
Nach wie vor hält sie an ihren Vorstellungen von einem zukunftsfähigen, gerechten und einheitlichen Bildungssystem fest:
- das kein Kind zurücklässt,
- das sich den gesellschaftlichen Anforderungen nach Integration – nicht: Ausgrenzung – stellt,
- das einer demokratischen Schule ermöglicht, Kinder nicht nach der vierten Klasse in potentielle Gewinner und Verlierer aufzuteilen.
Die GGG setzt sich damit weiterhin für eine Schule für alle ein, von Anfang an bis zum Ende der Sekundarstufe I.
Wir wissen aber auch, dass es an Bündnispartnern im politischen Raum mangelt, die das Ziel einer Schule für alle in einem Landtagswahlkampf zu dem ihren machen würden.
So bleibt als wichtige Aufgabe, die Schulform Gesamtschule zu stärken und dafür Verbündete zu finden.
Die GGG vertritt die Interessen von über 130 Gesamtschulen in Niedersachsen. Einerseits ist die Zunahme der letzten Jahre ein großer Erfolg – andererseits erfüllt uns die teilweise ungesteuerte Entwicklung an dem einen und anderen Standort auch mit Sorge.
Und wir müssen auf Verwerfungen in der Bildungslandschaft hinweisen, die aufgrund einer sehr ungleichen Lastenverteilung zwischen den Schulformen bei der Frage der Inklusion und der Integration entstanden sind.
Die Stärkung muss nicht nur die Stellung der Gesamtschule im Schulsystem berücksichtigen, sondern mindestens ebenso deren personelle Ausstattung.
Gleichzeitig krankt das System Bildung an antiquierten Vorstellungen über die Wertigkeit von Lehrämtern als Ausdruck einer (falschen) Hierarchisierung von Schulformen. Hier ist dringender Handlungsbedarf bei der Gleichstellung von Besoldung und Regelstundenzahl. Eine grundlegende Reform der Lehramtsausbildung ist überfällig.
2022 wird in Niedersachsen der Landtag neu gewählt. Die GGG hat Wahlprüfsteine zur Situation und Perspektiven von Gesamtschulen in Niedersachsen erstellt, zu denen sich die politischen Parteien im Wahlkampf positionieren können.
1. Zur Stellung der Gesamtschule im Schulsystem und zur Weiterentwicklung der Bildungslandschaft
Insbesondere Aspekte einer annähernden schulrechtlichen Gleichstellung der Gesamtschulen wurden vom Gesetzgeber im 2013 veränderten Schulgesetz berücksichtigt. Hier muss nun dringend der nächste Schritt folgen.
Schulträger können sich nach § 106,2 NSchG entschließen, nur eine Gesamtschule statt HS, RS, OS zu führen. Ein Gymnasium muss jedoch in zumutbarer Entfernung erreichbar sein. Warum ist eine Schulform hier besonders hervorgehoben? Gymnasien sollen künftig keine Sonderbedingungen haben.
Warum ist die GGG in Niedersachsen gegen eine Zweigliedrigkeit aus Gymnasien und Gesamtschulen? Weil Gymnasien sich ihrer Schüler:innen weiter entledigen können (abschulen), weil Zweigliedrigkeit für eine Schule für alle eine Sackgasse ist, wie die Entwicklungen z.B. an einigen Standorten in Niedersachsen deutlich belegen. Gesamtschulen sind dann für alle Probleme und Sorgen der Gesellschaft, wie sie sich in den Schulen abbilden, verantwortlich. Es entsteht eine unfaire Lastenverteilung im Bildungssystem.
Schulen müssen diejenigen Schüler:innen bis zum Ende der Sekundarstufe I behalten, die sie in Jahrgang 5 aufgenommen haben; sie vergeben schließlich auch alle möglichen Sek.-I-Abschlüsse.
Steuerung der Schulentwicklung geschieht derzeit vielfach auf kommunaler Ebene ohne Zentralsteuerung durch das Land. Schulträger entwickeln bisweilen jedoch sehr eigenwillige Vorstellungen, um Schulangebote vor Ort zu erhalten. Dabei haben sie die Qualität von Gesamtschulen nicht immer im Blick. Es entstehen Konkurrenzsituationen um die leistungsfähigeren Schüler:innen von Gesamtschulen untereinander. Schafft der Schulträger noch Einzugsbereiche für mehrere Gesamtschulen in seinem kommunalen Hoheitsgebiet, verlieren Gesamtschulen gegenüber Gymnasien. Ein Bildungsmonitoring muss die Entwicklung von Nachfrage und Bedarf langfristig im Blick haben und darstellen. Auf einer solchen Grundlage müssen Entscheidungen getroffen werden und nicht nach Kirchturmspolitik.
Dazu müssen sie mindestens vierzügig geführt werden, eine Dreizügigkeit soll nicht mehr möglich sein. Hier wurden inzwischen Erfahrungen an mehreren Standorten gesammelt, die eine deutliche Sprache sprechen. Gesamtschulen müssen attraktive Lernangebote machen können, z.B. im Bereich Fremdsprachen. Das ist für kleine Systeme schwierig, sie können per se keine eigene Oberstufe führen und verlieren so an Attraktivität gegenüber Gymnasien. Gute Erfahrungen mit der Mindestgröße „Vierzügigkeit“ bei IGS in Niedersachsen liegen verlässlich vor. Die Ausnahme im § 12, 2 NSchG, wonach Gesamtschulen auch ohne Oberstufe geführt werden dürfen, muss aus dem Schulgesetz gestrichen werden. Die Ausnahmeregelung in der Verordnung über Schulorganisation zur Möglichkeit der Errichtung einer dreizügigen Gesamtschule muss ebenfalls entfallen.
Inklusion und Integration von Geflüchteten sind eine gesellschaftliche Herausforderung und Aufgabe für jede Schulform. Gesamtschulen und Oberschulen (und da, wo es sie noch gibt: Hauptschulen) schultern diese Herausforderungen vor allem. Die Schulform Gymnasium entzieht sich an vielen Standorten dieser Verantwortung für alle. Freier Elternwille und ablehnende Haltung bei Aufnahmegesuchen führen zu einer sehr einseitigen Verteilung. Hier muss der Staat (Land Niedersachsen) regelnd eingreifen. Dasselbe muss für die Aufnahme von Kindern mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf gelten.
In Niedersachsen arbeiten derzeit 36 kooperative Gesamtschulen, eine Schulform, die es nach dem Schulgesetz in Niedersachsen gar nicht mehr gibt. Nur in §183 b NSchG wird die KGS als „geduldete“ Schulform erwähnt („können weiter bestehen…“). Dies ist einer Schulform, die anders als die IGS aber eben auch gemeinsames Lernen betreibt, nicht würdig. 36 Schulen können nicht einfach in einem juristischen Niemandsland dahindämmern. Zudem könnte eine KGS an einigen Standorten besser als eine sehr kleine IGS ein integratives Schulangebot vor Ort darstellen.
2. Zur Verbesserung der Ressourcen und Rahmenbedingungen
Für die Arbeit mit der sehr heterogenen Schülerschaft der Gesamtschulen ist es unbedingt erforderlich, dass in den multiprofessionellen Teams alle Lehrämter in angemessenem Verhältnis vertreten sind. Die Praxis, dass Gesamtschulen fast ausschließlich Gymnasiallehrkräfte einstellen dürfen, muss beendet werden.
Die Daten der amtlichen Schulstatistik bilden die reale Versorgung nicht ab. Um kurzfristige Ausfälle zu kompensieren, müssen Schulen regelhaft mit über 100% versorgt sein.
Um ihrer heterogenen Schülerschaft gerecht zu werden, benötigen Gesamtschulen die Ressourcen für Differenzierung und Förderung. Zudem kann die Gesamtschule als gebundene Ganztagsschule nicht auf die Versorgung des Ganztagszuschlags verzichten - in diesen Schulen bedeutet Ganztag jeden Tag gemeinsam leben und lernen, was etwas ganz anderes ist als „Betreuung“.
Unabhängig von der Schulform muss die personelle Ausstattung der inklusiven Schule verbessert werden, endlich auch mit pädagogischen Mitarbeiter:innen. Weil aber Gesamtschulen sich besonders intensiv der Inklusion annehmen, ist dies gerade für unsere Schulform eine wichtige Forderung. Gesamtschulen müssen endlich eine zusätzliche Funktionsstelle zur Koordinierung von Inklusion erhalten.
Auch wenn die neuen Gesamtschulen (als Ganztagsschulen) inzwischen mit 75% des Ganztagszuschlags versorgt sind, muss eine neue Landesregierung für die völlige Gleichstellung „alter“ und „neuer“ Ganztagsschulen sorgen.
Die Klassenfrequenz von 30 Schüler:innen je Klasse war noch nie zeitgemäß. Die gesellschaftlichen Herausforderungen durch Inklusion und Integration sowie veränderte Familienkonstellationen und schwierigere Biografien von Jugendlichen haben deutlich zugenommen. Eine Absenkung auf 26 ist notwendig, zumal sich die Gesamtschule den gesellschaftlichen Aufgaben von Inklusion und Integration in voller Breite stellt.
Derzeit sieht der Stellenkegel für eine Gesamtschule vor, dass nur 2/3 der Beförderungsämter z.B. als Fachbereichs- und Jahrgangsleitungen mit A 14 ausgeschrieben werden dürfen. Diese Beschränkung ist teilweise eine Hürde bei der Suche nach geeignetem Führungspersonal und entbehrt einer sachlogischen Grundlage. Da Gesamtschulen in den letzten sieben Einstellungsdurchgängen fast nur noch Stellen für das gymnasiale Lehramt ausschreiben durften, wird sich die Problematik der Beschränkung von A 14 Stellen für Beförderungsämter in absehbarer Zeit noch mehr verschärfen.
Derzeit erhalten drei- und vierzügige Oberstufen von Gesamtschulen keine/n Sek-II-Koordinator:in, sondern nur die Funktionsstelle einer Oberstufenleitung. Die zweite Leitungsstelle hängt von der Fünf-Zügigkeit der Oberstufe ab. Derzeit vierzügige Oberstufen würden z.B. eine Stelle verlieren. Eine zweite Leitungsstelle ist für die Durchführung des Abiturs und andere Verwaltungsaufgaben jedoch unerlässlich.
3. Mehr Eigenverantwortung, gute Unterstützung für Gesamtschulen und für eine zukunftsweisende Ausbildung von Lehrkräften
Schulen entscheiden selbst, wie sie ihre anvertrauten Schüler:innen zu gesellschaftlich vereinbarten Zielen führen (Abschlüsse & mehr). Dazu gehört auch Gestaltungsfreiheit im Umgang mit Heterogenität. In einigen Bundesländern z.B. spielt äußere Fachleistungsdifferenzierung gar keine Rolle mehr. Die Anschlussfähigkeit von Kompetenzen ist nicht abhängig von Kursen, sondern von besonderen Herausforderungen im Unterricht. Der neue Organisationserlass für Gesamtschulen lässt unterschiedliche Differenzierungsmodelle zu. Die Pflicht zur Genehmigung durch die oberste Schulbehörde für ein Abweichen von der äußeren Differenzierung in den Jahrgängen 9/10 muss fallen.
Zur Ausgestaltung des pädagogischen Konzepts vor Ort benötigen die Schulen wieder Entscheidungsfreiheit bei der Auswahl und Einstellung des Personals und der Verwendung des Budgets.
Schulen brauchen gute Beratung und Betreuung durch Dezernenten:innen. Dies geht nur mit entsprechendem Sachverstand auf Seiten der Behörde. Die Dezernate 3 „Gesamtschulen/ Gymnasien“ müssen personell entsprechend besetzt werden. Die fachliche Unterstützung der Schulen ist wichtiger als regionale Zuständigkeit.
Die Abschaffung des Fachreferats für Gesamtschulen im Kultusministerium wurde und wird nach wie vor von den Gesamtschulen als Affront gegen die Schulform bewertet. Gesamtschulen brauchen ein eigenes Fachreferat und kompetente schulfachliche strategische Steuerung.
Integrierte Fächer wie Naturwissenschaften (NW), Gesellschaftslehre (GL) und Arbeit-Wirtschaft-Technik (AWT) stehen für vernetztes Denken, ohne das weder in der Forschung noch in der (industriellen) Anwendung Erfolge erzielt werden können. Eine Öffnung von Fachsichtweisen hin zu Zusammenhängen muss bereits in der Lehrer:innenausbildung vorbereitet werden. Die Aus- und Fortbildungsangebote für Lehrkräfte sollen ausgebaut werden. Hier gibt es sehr erfolgreiche existierende Fortbildungsmodelle, die von den Gesamtschulen selbst entwickelt worden sind sowie modellhafte Module in einigen wenigen Studienseminaren. Die Prüfungsverordnung für die Lehrämter aller weiterführenden Schulformen muss hier endlich angepasst werden.
Es wird Zeit für eine Besoldung und für Arbeitsbedingungen, die sich nicht mehr an einem Bildungssystem eines antiquierten Ständestaates orientieren, sondern an realen Herausforderungen im Beruf. Die Lehrer:innenausbildung muss sich ebenso ändern. Künftig soll es zwei Lehrämter geben; von Jahrgang 1 – 10 und von 5 – 13. Gleiche Besoldung bei gleicher Stundenzahl für alle Schulformen ist dann Ausdruck derselben Bedeutsamkeit der Lehrtätigkeit gleich für welches Alter der Schüler:innen.
Sie könnte auch zur Erhöhung der Attraktivität des Lehrer:innenberufs beitragen. Den Fachkräftemangel beim lehrenden Personal spüren nicht nur die Gesamtschulen.